Nikolaus Harnoncourt

(6.12.1929-5.3.2016)

Nikolaus Harnoncourt
Nikolaus Harnoncourt bei Entgegennahme des ihm 1997 verliehenen Internationalen Robert-Schumann-Preises der Stadt Zwickau im Robert-Schumann-Haus, links der Zwickauer Oberbürgermeister Dietmar Vettermann (Foto: Stadt Zwickau)

Große Trauer um Nikolaus Harnoncourt (6.12.1929-5.3.2016), der auch Gründungsmitglied unseres 2011 aus der Taufe gehobenen Schumann-Forums gewesen ist.
 

Ein Nachruf von Prof. Dr. Dr. Otto Biba, Direktor des Archivs, der Bibliothek und der Sammlungen der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien (Mitglied im Schumann-Netzwerk)

Am 11. und 12. Juli 2015 hat Nikolaus Harnoncourt im Rahmen des 1985 seinetwegen gegründeten Festivals styriarte in der nicht weit von Graz gelegenen Pfarrkirche Stainz die letzten beiden Konzerte seines Lebens dirigiert. „In tempore belli“ war das Motto, Haydns „Missa in tempore belli“, die so genannte Paukenmesse, und seine Symphonie Hob. I:97 standen auf dem Programm.

Fast symbolhaft für seinen Abschied vom Konzertpodium und von seinem „Concentus Musicus Wien“, denn in tempore belli, im Krieg, befand sich Harnoncourt oft, freilich nicht im äußerlichen Sinn, denn er sah keine Feinde, er fühlte sich nie angegriffen (wohl aber lange unverstanden) und griff deshalb nicht an. Er kämpfte für die Wahrheit der Kunst, aber nicht als Krieger, nicht gegen Menschen und Meinungen, sondern als Missionar für die Kunst, für deren „heilige Sprache“, die Musik: „Wir Musiker – ja alles Künstler – haben eine machtvolle, ja heilige Sprache zu verwalten. Wir müssen alles tun, dass sie nicht verloren geht im Sog der materialistischen Entwicklung. Es ist nicht mehr viel Zeit, wenn es nicht gar schon zu spät ist, denn die Beschränkung auf das Denken und die Sprache der Vernunft, der Logik, und die Faszination durch die damit erzielten Fortschritte in Wissenschaft und Zivilisation entfernen und immer weiter von unserem eigentlichen Menschentum. Es ist wohl kein Zufall, dass diese Entfernung mit der Austrocknung des Religiösen Hand in Hand geht: Die Technokratie, der Materialismus und das Wohlstandsdenken brauchen keine Religion, kennen keine Religion, ja nicht einmal Moral.“ Harnoncourt kämpfte für noch etwas, für die Wahrheit der Kunst und in der Kunst, wieder nicht gegen sichtbare, sondern gegen unsichtbare Feinde, wie das Vergessen, die Gewohnheit, Schlamperei, Bequemlichkeit, Gedankenlosigkeit, die allesamt die Wahrheit vergessen lassen können. Dagegen kämpfte er mit dem Geist, mit dem Wissen, mit den Mitteln der Wissenschaft. Wenn ihn diese lange als „Praktiker“ nicht zur Kenntnis nehmen wollte, so störte ihn das nicht, denn er wußte, daß die Zeit für ihn, für eine Verbindung von Wissenschaft und Praxis arbeitet.

Das letzte Werk, das Harnoncourt in seinem letzten Konzert im Großen Musikvereinsssaal in Wien dirigierte, war Beethovens Fünfte Symphonie. Es war eine kühne neue Darstellung, auf die er nach langen Studien hingearbeitet hat, und endlich hatte er einen Musiker gefunden, der den Part der Piccoloflöte im letzten Satz auf jenem Instrumententyp spielen konnte, von dem er überzeugt war, ja wußte, daß er auch zu Beethovens Zeit dafür verwendet wurde. Plötzlich hat alles in der Balance gestimmt, der Piccolo-Part war nicht irgendwie darüber gesetzt, sondern integriert, er machte erst die Bläserepisoden als solche erkenntlich. Kurz, es war wie so oft bei Harnoncourt: Scheinbare Probleme in der Instrumentation wurden obsolet, wenn man die richtigen Instrumente richtig eingesetzt hat. Bei seinen Schumann-Interpretationen war das ja nicht anders: Kein Wort mehr von Schumanns seltsamen, unbedingt zu korrigierenden Instrumentationen.

Der Live-Mitschnitt von Beethovens Fünfter war für eine neue Edition sämtlicher Beethoven-Symphonien mit seinem „Concentus Musicus Wien“ bestimmt. Dieses Projekt blieb ein Torso, nachdem Harnoncourt Anfang Dezember 2015 endgültig erkennen hat müssen, daß er krankheitsbedingt den Strapazen eines Konzerts (des Auftritts wie aller davor liegender Proben) nicht mehr gewachsen war. Am 5. März 2016 ist er im Kreis seiner Familie entschlafen, auch ein Buch, an dem er bis zuletzt gearbeitet hat, als Torso hinterlassend.

Ein schier grenzenloses Verantwortungsgefühl im Umgang mit dem ihm Anvertrauten und ein fundamentaler Gestaltungswille: Diese Maximen des Interpreten Nikolaus Harnoncourt versteht man vielleicht noch besser, wenn man von der kleinen Werkstatt in seinem Haus in St. Georgen in Oberösterreich weiß, wo er Holz bearbeitet hat, ein für ihn edles Material, sparsam und wohlüberlegt damit umgehend, aber auch energisch eingreifend, um daraus das entstehen zu lassen, wofür es bestimmt war. Man muß auch wissen, daß er schon als Fünfzehnjähriger seine Liebe zu Marionetten entdeckt, andere begeistert und um sich geschart hat, Marionetten und für sie eine Bühne baute – und mit seinen Freunden Vorstellungen gab. Übrigens angeregt von Heinrich von Kleist.

„Den nehmen wir“, hat der den Jury-Vorsitz innehabende Herbert von Karajan geflüstert, noch bevor Nikolaus Harnoncourt 1952 beim Antritt zum Probespiel für die Wiener Symphoniker überhaupt den ersten Ton gespielt hat. Die Künstlerpersönlichkeit hat Karajan beeindruckt. Harnoncourts Interpretationsstil später weniger. „So werden Sie hinfallen, wenn Sie so weitermachen“, hat ihm Enrico Mainardi prophezeit, als er von Harnoncourt in einem Wiener Privathaus eine Solosuite von Bach in historischer Bogenführung und Phrasierung gehört hat. Um das anschaulich zu machen, hat Mainardi am Tisch Weingläser umgeworfen.

Harnoncourt hat immer polarisiert. 1949 hat er gemeinsam mit Alice Hoffelner, Alfred Altenburger und Eduard Melkus das „Wiener Gambenquartett“ gegründet. Melkus und Altenburger haben ihn wegen seiner Kompromißlosigkeit verlassen, Alice Hoffelner ist 1953 seine Frau geworden. In diesem Jahr 1953 hat er auch mit einigen Freunden und Kollegen den „Concentus Musicus Wien“ gegründet, mit dem er erst im Mai 1957 erstmals öffentlich aufgetreten ist: Vier Jahre Probenarbeit, nein Ausprobieren, Suchen und Prüfen vor dem ersten Auftritt. Gespielt wurde – abgesehen vom Cembalo – nicht auf Nachbauten, sondern konsequent auf historischen Instrumenten, die Harnoncourt (oft wirklich unter Entbehrungen für sich und seine Familie) zum Spielen angekauft hat. 1958 begann er mit dem „Concentus“ regelmäßig aufzutreten, wofür von der Saalmiete bis zum Kartenverkauf alles selbst finanziert und organisiert werden mußte, bis er 1962 eine eigene Konzertreihe im Wiener Konzerthaus erhielt. 1966 unternahm er mit dem „Concentus“ die erste Amerika-Tournee, 1968 die erste durch Deutschland. 1973 wurde Harnoncourt erstmals für ein Konzert der Gesellschaft der Musikfreunde im Großen Musikvereinssaal engagiert. Damit hat er in der Wiener Musikszene die höchsten Weihen erhalten - und bald in diesem Saal auch einen eigenen Zyklus. 1987 hat er dort den „Concentus“ zum letzten Mal vom Cello aus geleitet, wie er es seit 1953 getan hat. Nun dirigierte er auch sein Orchester vom Pult aus, so wie andere Orchester schon seit 1972.

Den Sprung vom Orchestermusiker zum Dirigenten hat Harnoncourt 1969 vollzogen, als er seinen Dienst bei den Wiener Symphonikern quittierte, vorerst als einen Sprung ins Ungewisse und nicht, weil er hoch hinaus wollte. Er ertrug einfach nicht mehr die Spannung zwischen dem, was er aus Überzeugung wollte, und dem, was er im Orchester machen mußte.

Als Dirigent hat Harnoncourt weiter polarisiert und auch schockiert, und es war eine für ihn und seine Familie aufregende Zeit, bis er nach und nach von den großen Orchestern anerkannt und engagiert wurde – erst vom Königlichen Concertgebouw-Orchester Amsterdam, dann von den Berliner und Wiener Philharmonikern – die er mit Schallplattenaufnahmen mit seinem „Concentus“ überbrückt hat, denn Teldec hat auf ihn gesetzt und viele Aufnahmen in der Reihe „Das alte Werk“ herausgebracht. 1971 begann er gemeinsam mit Gustav Leonhart (jeder übernahm einen Teil) die erste Gesamtaufnahme aller Bach-Kantaten, nachdem er mit der „Matthäuspassion“ und der „h-Moll-Messe“ dort schon Pionierarbeit mit Bach geleistet hatte. Am Opernhaus Zürich realisierte er 1975 bis 1979 einen Monteverdi- und 1980 bis 1989 einen Mozart-Zyklus und bei den Salzburger Festspielen war er seit 1992 Fixstarter, soferne ihm die künstlerischen Arbeitsbedingungen geboten wurden, die er für nötig hielt. Diese waren für ihn auch die Maxime, nach der er Engagements von Orchestern oder Opernhäusern auswählte. Einen eigenen Zyklus hat er nur im Großen Musikvereinssaal in Wien gehabt und auch nur dort haben wollen, mit jeweils zwei Konzerten für jedes Programm. Bei der Salzburger Mozartwoche 2015 hat Harnoncourt im Salzburger Festspielhaus noch ein Konzert mit den Wiener Philharmonikern übernommen, das der kurz davor verstorbene Lorin Maazel hätte dirigieren sollen. Im Jänner 2016 wurde dort für sein eigenes Konzert kein so prominenter Ersatz gefunden. Die großen Dirigentenpersönlichkeiten seiner Generation werden immer weniger.

Harnoncourt war aber nicht nur Interpret, sondern auch Wissenschaftler, wie er immer betonte, als Voraussetzung für seine interpretatorische Arbeit. Von 1973 bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1993 war er Professor für Aufführungspraxis und historische Instrumentenkunde an der Hochschule Mozarteum in Salzburg. Sein Seminar hieß „Theorie und Praxis der Alten Musik“, wobei in seinem Verständnis „Alte Musik“ bis 1900 reichte. Sein Repertoire als Dirigent schloß sogar noch Alban Berg mit ein: „Alban Berg war kaum je näher“, las man in der Kritik nach einer seiner Aufführungen von Bergs Violinkonzerts mit Gidon Kremer. À propos Repertoire, das wurde immer größer und weiter. Operetten, Smetanas „Verkaufte Braut“, Verdis „Requiem“, auch diesen Werken hat Harnoncourt sein unverkennbares Profil gegeben.

Sein künstlerisches Schaffen ist in zahlreichen Tonaufnahmen dokumentiert. Seine Gedankenwelt, seine wissenschaftlichen Erkenntnisse und Maximen hat er in Büchern und Aufsätzen niedergelegt. Wie sich das alles mit seinen Interpretationen deckt, ist faszinierend zu verfolgen.

Nikolaus Harnoncourt war 1997 Träger des Robert Schumann Preises der Stadt Zwickau. Schon 1980 hat er den Erasmus-Preis erhalten, 1985 die Goldene Ehrennadel der Deutschen Schallplattenkritik, 1994 den Polar Music Prize der Schwedischen Königlichen Musikakademie, 2001 den Grammy für die beste Choreinspielung, im Jahr darauf den Ernst-von-Siemens-Musikpreis und 2010 den Echo-Klassik-Preis. 1998 wurde er Ehrenmitglied der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, 2004 Ehrenmitglied der Wiener Philharmoniker, 2012 erhielt er die Goldmedaille der Royal Philharmonic Society. Dazu kamen staatliche Auszeichnungen, die ihm jedoch weniger wichtig waren als musikalische Anerkennungen. Am glücklichsten war er mit der Zustimmung des Publikums, wenn er sah, daß seine künstlerische Überzeugungsarbeit angenommen wurde und zu einem neuen Hören geführt hat, wenn es ihm gelang, die mit ihm wirkenden Musiker wie die Zuhörer in neue Rezeptionserlebnisse mitzunehmen und mit ihm über Musik nachzudenken, wenn „Musik als Klangrede“ verstanden wurde: Das war Nikolaus Harnoncourts größtes, eigentliches Anliegen und der Titel seines 1983 erschienenen, seither immer wieder neu aufgelegten und in viele Sprachen übersetzten Buches mit dem Untertitel „Wege zu einem neuen Musikverständnis“.

Wien, Palmsonntag 2016